
Seemayer, Karin; Bergleuchten: Aufbau TB, 2023.
Der alte Gotthardtunnel – noch heute ein beeindruckendes Bauwerk und aktuell wieder in Hochbetrieb. Für uns ist die schnelle Verbindung ins Tessin eine Selbstverständlichkeit, fällt sie einmal aus, herrscht sofortige Aufruhr. Doch den so zentralen Tunnel durch das Alpenmassiv gibt es noch gar nicht so lange und er musste mühsam erbaut werden.
Der Roman startet am Anfang der Bauzeit im Jahr 1872 in Göschenen, einem Dorf, das nicht zuletzt vom gefährlichen Warentransport über den Gotthardpass lebte. Im Mittelpunkt steht die Fuhrmannstochter Helene Herger, die nichts lieber tun würde, als eines Tages die Fuhrhalterei zu übernehmen. Als Frau bleibt ihr das verwehrt – doch nicht nur sie blickt in eine ungewisse Zukunft, sondern die ganze Branche, ja das ganze Dorf. Der Tunnelbau stellte das Leben in Göschenen auf den Kopf. Zehn Jahre lang dominierte die Grossbaustelle das Leben; zu den etwa 300 ansässigen Personen kamen zeitweise um die 1500 Arbeiter. Einer von ihnen ist Piero, der wie viele andere gezwungen ist, seinen Lebensunterhalt unter katastrophalen Bedingungen zu verdienen. Piero wird bei den Hergers einquartiert und hegt schon bald Gefühle für die freiheitsliebende Helene. Eine Liebe, die es eigentlich gar nicht geben darf…
Der Roman zeigt deutlich, wie Welten zusammenprallen. Wie fühlten sich die Arbeiter, die jeden Tag in ein kilometerlanges Loch transportiert wurden, um dort in der Hitze ohne frische Atemluft zu bohren? Wie nahmen die Menschen in Göschenen diese als fremdländisch empfundenen Arbeiter auf? Wie konnte das Zusammenleben unter diesen widrigen Umständen funktionieren? Ein aufwühlender Roman, der diese Welt so realitätsnah wieder auferstehen lässt, dass tief in diese Zeit eingetaucht werden kann.
Chiara Neuhaus